Das deutschsprachige populäre Geschichtsbuch im 19. und 20. Jahrhundert (Non Fiktion, Heft 1/2025)

Das deutschsprachige populäre Geschichtsbuch im 19. und 20. Jahrhundert (Non Fiktion, Heft 1/2025)

Veranstalter
Pd Dr. Bernhard Walcher; Pd Dr. Björn Spiekermann
PLZ
69117
Ort
Heidelberg
Land
Deutschland
Findet statt
In Präsenz
Vom - Bis
19.09.2023 -
Deadline
31.10.2023
Von
Bernhard Walcher, Germanistisches Seminar, Universität Heidelberg

Nicht erst der große Erfolg von Yuval Noah Hararis Weltbestsellern belegt eindrücklich das Bedürfnis des Menschen, seinen Platz in der Geschichte zu verstehen, sich selbst als geschichtlich zu begreifen, nicht zuletzt aber auch, die Gegenwart von der Geschichte und die Geschichte von der Gegenwart her zu deuten, mit Fragestellungen, die uns heute angehen.

Das deutschsprachige populäre Geschichtsbuch im 19. und 20. Jahrhundert (Non Fiktion, Heft 1/2025)

Für derart weitreichende Perspektiven ist weniger die akademische Forschung zuständig. Vielmehr liegt hier seit langem das Ziel einer populären, essayistisch verfahrenden Geschichtsschreibung. Sie stellt nicht bloß die auswählende, vereinfachende Vermittlung akademischen Fachwissens dar wie Schulbücher oder Lexika. Wie andere Formen des Histotainment darf sie pointieren, deuten, veranschaulichen, Leerstellen überbrücken, kann Fragen stellen, die wissenschaftlich kaum zu beantworten sind. In Zeiten fachlicher Spezialisierung setzt sie auf Universalität; gegenüber der Partikularisierung von Geschichte in punktuelle Einzelstudien und Strukturen demonstriert sie ihre Anschaulichkeit und Erzählbarkeit sowie ihre Relevanz für Gegenwärtiges.

Hier liegen auch einige ihrer unübersehbaren Schwierigkeiten und Grenzen. Denn häufig lässt sich bei solchen Texten auch eine Instrumentalisierung von Geschichte im Dienst je aktueller Positionen und engagierter Stellungnahmen beobachten, die durch suggestiven Einsatz sprachlicher Mittel zugleich unterstützt und kaschiert werden können. Ein klassisches Beispiel bildet Treitschkes Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert (1879ff.) oder auch Karlheinz Deschners Kriminalgeschichte des Christentums (1986ff.). Spitzenleistungen wie Theodor Mommens Römische Geschichte oder Johann Gustav Droysens Alexander-Biographie verbinden wissenschaftliche Leistung und literarischen Anspruch, bleiben dabei aber die Ausnahme. Tatsächlich waren viele Autoren bekannter populärer Geschichtswerke gar nicht als Historiker ausgebildet, z.B. Egon Friedell, Stefan Zweig oder Sebastian Haffner. Manche schrieben auch außerhalb ihrer angestammten akademischen Disziplin, so etwa Ernst Gombrich (Kurze Weltgeschichte für junge Leser, 1935). Der Schlüssel zu ihrem Erfolg liegt also in erster Linie in der Präsentation des Gegenstands: in Auswahl, Vereinfachung, Perspektivierung und Aktualisierung, nicht zuletzt in der sprachlich-literarischen, oft betont geistreichen Darbietung historischer Themen.

Darin besteht das zentrale Interesse des geplanten Bandes, der einen dezidiert philologischen Zugang zum Phänomen des populären Geschichtsbuches eröffnen will. Insbesondere die selbst schon allmählich historisch gewordene Beobachtung und Kritik von „Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung“ (Hayden White) soll für die Textanalyse nutzbar gemacht werden. In der populären Geschichtsschreibung ist sie kaum je zum Problem geworden. Hierher gehört etwa die im populären Geschichtsbuch oft bewusst verwischte Grenze zwischen Faktualität und Fiktionalität. So greifen viele Autoren populärer Geschichtsbücher in auffälliger Weise auf Techniken zurück, die man vor allem in der fiktionalen Literatur erwarten würde. Die (implizit oder explizit) propagierten Geschichtsbilder und -deutungen sowie die Darstellung des Gegenstandes und die inhaltliche Disposition sind in ihrer Darbietungsweise oft narrativen Verfahrensweisen verpflichtet, die mit einem narratologischen Zugriff präzise herausgearbeitet werden können. Hier bieten die Differenzierungen und Präzisierungen narrativer Strategien durch die Erzähltheorie ein fundiertes Instrumentarium und können so geschichts- und politikwissenschaftliche oder buchgeschichtlichen Arbeiten (s. die Bibliographie weiter unten) gezielt ergänzen.

Der geplante Band von Non Fiktion will das weite Feld des populären deutschsprachigen Geschichtsbuchs im 19. und 20. Jahrhundert in einer Reihe von Einzeluntersuchungen zugänglich machen. Erwünscht sind Themenvorschläge, die einzelne Personen, Werke oder Werkkomplexe in den Blick nehmen und auf einer methodisch gesicherten Grundlage textnah analysieren. Zu erarbeiten sind typische oder auch individuelle Strategien populärhistorischer Darstellung, von der Themenwahl über die Pointierung, Deutung und Bewertung geschichtlicher Ereignisse und den Gegenwartsbezug bis hin zu den dabei verwendeten rhetorischen, literarischen oder visuellen Mitteln. Wie wirken diese zusammen, um über die Ergebnisse der Fachwissenschaft hinaus (oder hinweg) dem Publikum „Bilder aus der […] Vergangenheit“ (Gustav Freytag) zu präsentieren? Mögliche Quellen, Fragestellungen und Perspektiven für einzusendende Beiträge umfassen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):

Werke von Philipp Blom, Jacob Burckhardt, Bernd Engelmann, Herbert Eulenberg, Johann Gustav Droysen, Joachim Fest, Gustav Freytag, Egon Friedell, Hermann Glaser, Ernst Gombrich, Sebastian Haffner, Werner Hegemann, Werner Keller, Guido Knopp, Emil Ludwig, Golo Mann, Kurt Wilhelm Marek (C. W. Ceram), Theodor Mommsen, Rudolf Pörtner, Gerhard Prause, Heinrich von Treitschke, Stefan Zweig u.a.

Ideologie:
Werden politische oder ideologische Vereinnahmungen erkennbar? Wird das populäre Geschichtsbuch für revisionistische oder nostalgisch verklärende Deutungen historischer Ereignisse genutzt? Werden Vereinfachungen im Sinne der ‚großen Erzählungen‘ angeboten (z.B. Fortschrittsnarrativ, Dekadenzerzählung, „Whig history“ etc.)? Werden umgekehrt die Sichtweisen der Fachwissenschaft als verzerrt oder irreführend zurückgewiesen? Werden Verschwörungstheorien rezipiert, entwickelt oder auch kritisiert?

Deutung:
Wird der Sinn der Beschäftigung mit Geschichte erörtert? Werden geschichtliche Ereignisse oder Epochen explizit oder implizit zur Deutungsfolie für die Gegenwart? Wird umgekehrt die Gegenwart zum Ausgangspunkt für Fragen an die Vergangenheit gemacht? Wird eine Gesetzmäßigkeit oder Regelhaftigkeit der Geschichte unterstellt? Gibt es eine ‚Poetik‘ der populären Geschichtsschreibung in den Werken selbst oder in Paratexten?

Darstellungsweise:
Wird Geschichte personalisiert oder (z.B. in Biographien) das Persönliche ins Epochal-Überindividuelle gesteigert? Wie entsteht Anschaulichkeit? Wie werden Figuren charakterisiert und mit anderen koordiniert bzw. kontrastiert? Wie werden Zeit- und Erzählebenen arrangiert? Wie werden Fallhöhen oder vermeintliche historische Notwendigkeiten konstruiert? Werden Mittel der szenischen Gestaltung (Dialog und direkte Rede) oder der Introspektion eingesetzt?

Narratologisches:
In welcher Weise wird die Darstellungsweise durch erzählerische Mittel und Techniken geprägt oder auch der selbst gesetzte Anspruch – hinter dem Rücken der Autoren – unterlaufen? Wird die Ebene des Erzählens selbst (Exegesis) thematisiert? Inwiefern können narrative Techniken in solchen Texten benannt und narratologische Beschreibungskategorien angewandt werden im Sinne neuer Interpretationsperspektiven?

Fiktionalität und Faktualität:
Werden Begebenheiten, Figuren oder Szenen fingiert, die historisch nicht belegt sind? Werden Konturen einer alternate history erkennbar? Wird die Fiktionalität-Faktualitäts-Grenze bewusst überschritten, umspielt oder sogar auf der Reflexionsebene thematisiert? Neben Beiträgen zu Geschichtssachbüchern sind auch Beiträge zum historischen Roman erwünscht (z.B. Felix Dahns Kampf um Rom), an denen sich das Verhältnis exemplarisch problematisieren lässt.

Medialität, Materialität und Rezeption:
Kommt es zum Vorabdruck in Zeitschriften u.ä.? Wie lässt sich das Verhältnis zum Feuilleton bestimmen? Wie wirken Inhalt, Buchformat und -ausstattung zusammen? Welche Rolle spielen Bilder? Gibt es Zustimmung und Kritik von Seiten des Publikums und der Fachwissenschaft (hier z.B. auch die Kritik an der „historischen Belletristik“ in der Weimarer Republik oder die Kontroverse zwischen Golo Mann und Hans-Ulrich Wehler)? Gibt es auch Bestseller „aus Versehen“ (z.B. Mommsen, Spengler oder Golo Manns Wallenstein)?

Wir erbitten ein Abstract von ca. 500 Zeichen und eine Kurzinfo zur Person bis zum 31. Oktober 2023 an Bernhard Walcher (Heidelberg), bernhard.walcher@gs.uni-heidelberg.de und Björn Spiekermann (Hamburg), bjoern.spiekermann@uni-hamburg.de.

Eine Entscheidung über die Aufnahme der Beiträge, die eine Länge von maximal 20 Seiten (ca. 75.000 Zeichen) haben sollen, wird bis Ende November erfolgen. Redaktionsschluss für die Beiträge ist der 1. Juli 2024. Die Beiträge erscheinen Anfang 2025 in Non Fiktion. Arsenal der anderen Gattungen: https://www.wehrhahn-verlag.de/public/index.php?ID_Section=1&ID_Category=17y=17.

Auswahlbibliographie:

Gereon Blaseio / Hedwig Pompe / Jens Ruchatz (Hrsg.), Popularisierung und Popularität, Köln 2005.
Monika Estermann / Ute Schneider (Hrsg.), Wissenschaftsverlage zwischen Professionalisierung und Popularisierung, Wiesbaden 2007.
Hans-Joachim Gehrke / Miriam Sénécheau (Hrsg.), Geschichte. Archäologie. Öffentlichkeit. Für einen neuen Dialog zwischen Wissenschaft und Medien. Standpunkte aus Forschung und Praxis, Bielefeld 2010.
Christoph Gradmann, Historische Belletristik. Populäre historische Biographien in der Weimarer Republik, Frankfurt am Main 1993.
Andy Hahnemann / David Oels (Hrsg.), sachbuch und populäres wissen im 20. jahrhundert. Frankfurt am Main 2008.
Wolfgang Hardtwig / Erhard Schütz (Hrsg.), Geschichte für Leser. Populäre Geschichtsschreibung in Deutschland im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2005.
Thomas Hecken, Populäre Kultur, populäre Literatur und Literaturwissenschaft. Theorie als Begriffspolitik, in: Journal of Literary Theory 4 (2010), S. 217–234.
Isabelle Luhmann, Die Staufer in der populären Geschichtskultur. Ein Rezeptionspanorama seit den 1970er-Jahren, Bielefeld 2021.
Nina Reusch, Populäre Geschichte im Kaiserreich. Familienzeitschriften als Akteure der deutschen Geschichtskultur 1890–1913, Bielefeld 2015.
Jörn Rüsen, Narrativität und Modernität in der Geschichtswissenschaft, in: Theorie der modernen Geschichtsschreibung. Hrsg. v. Pietro Rossi, Frankfurt am Main 1987, S. 230–237.
Karlheinz Stierle, Erfahrung und narrative Form. Bemerkungen zu ihrem Zusammenhang in Fiktion und Historiographie, in: Theorie und Erzählung in der Geschichte. Hrsg. von Jürgen Kocka und Thomas Nipperdey, München 1979, S. 85–118.
Harald Weinrich, Narrative Strukturen in der Geschichtsschreibung. In: Geschichte – Ereignis und Erzählung. Hrsg. von Reinhart Koselleck und Wolf-Dieter Stempel, München 1973, S. 519–523.
Hayden White, Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung, Frankfurt Main 1990.

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